Peter Lindbergh – A Different Vision on Fashion Photography

Von Andrea Bruchwitz - Fr, 23.09.2016 - 10:08
Peter Lindbergh - A Different Vision on Fashion Photography bei WhiteWall

Nur wenige Künstler haben die Evolution der Modefotografie so entscheidend geprägt wie Peter Lindbergh. Der Bildband A Different Vision on Fashion Photography wagt eine Annäherung an die Arbeiten des legendären Fotografen und veranschaulicht seine erzählerische, beinahe filmische Bildsprache auf über 500 Seiten. Begleitend zur gleichnamigen Retrospektive in der Kunsthal Rotterdam zeigt der Bildband jene Fotografien, die einen entscheidenden Wendepunkt in der Modefotografie symbolisieren. Dazu ein Zeitsprung ins Jahr 1989: Die Supermodels Cindy Crawford, Linda Evangelista, Christy Turlington, Naomi Campbell und Tatjana Patitz lachen mit locker sitzendem Haar und lässiger Kleidung in Lindberghs Kamera und verrücken das glatt geschminkte Schönheitsideal der 1980er Jahre. Ein neues Zeitalter beginnt, welches die weibliche Schönheit und Unabhängigkeit zelebriert: die Supermodel-Ära.

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Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz, Christy Turlington & Cindy Crawford, New York, 1990. © Peter Lindbergh (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Der Bildband setzt beim Umbruch der ästhetischen Ideale an. Lindbergh war seiner Zeit voraus, als er in den Achtzigern herzhaft lachende, fast ungeschminkte Models fotografierte, die weiße Männerhemden trugen. Kein aufwändiges Make-Up, keine Accessoires, ein Hauch von Nichts – die Modeszene war entsetzt. Die renommierte Zeitschrift Vogue reagierte pikiert und fragte, was man denn mit solchen Bildern anfangen solle. Kurze Zeit später inszenierte Lindbergh das Model Michaela Bercu für ein Cover-Shooting in Paris und brach damit alle Regeln: Bercu wirbelte vor der Kamera herum und blickte mit wehendem Haar am Betrachter vorbei, Lindbergh schoss das Bild in einem flüchtigen Moment. Anna Wintour, die gerade erst Chefredakteurin der Vogue geworden war, sagte später über dieses Shooting: „Es war so anders als die bemüht eleganten Nahaufnahmen mit tonnenweise Make-up und klotzigem Schmuck, wie sie damals für Vogue-Cover typisch waren. […] Ich hatte einfach nur dieses Bild gesehen und den frischen Wind gewittert.“

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Michaela Bercu. Paris, 1988. © Peter Lindbergh (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Keine Schönheit ohne Wahrheit

Jener frische Wind ist das Kernthema in A Different Vision on Fashion Photography. Der Leser erfährt zu Beginn, wie Lindbergh das damalige Frauenbild zurechtrückte, indem er Künstlichkeit gegen Persönlichkeit und Eigensinn austauschte. Die Unabhängigkeit der Frau spielt bis heute eine große Rolle in seinen Werken: Wenn Maskulinität vorkommt, dann meist nur in Form von weiblichen Archetypen, die Männerkleidung tragen. Lindberghs Portrait der starken Frau umweht ein Hauch von Feminismus.

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Cindy Crawford, Tatjana Patitz, Helena Christensen, Linda Evangelista, Claudia Schiffer, Naomi Campbell, Karen Mulder & Stephanie Seymour. New York, 1991. (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Was schon beim ersten Blick ins Buch auffällt, ist die Dominanz von Lindberghs monochromen Bildern. Der Künstler entscheidet sich bewusst für die Schwarz-Weiß-Fotografie: Laut Lindbergh lasse eine farblose Darstellung den Betrachter direkt in die Seele seiner Modelle schauen. Als Inspiration dienen ihm die monochromen Bilder aus der amerikanischen Depression, die Eindrücke von sozialer Ungleichheit, Armut und Kriminalität vermitteln. Lindbergh sagt, der Verzicht auf Farbe erlaube, „eine Interpretation der unmittelbaren Wirklichkeit“ und „eine tiefere Verbindung zur Wirklichkeit als die Farbfotografie.“ Von der digitalen Nachbearbeitung distanziert er sich: „Wie verrückt und weltfremd ist denn die Idee, aus dem eigenen Gesicht alles an Erfahrungen zu löschen?“, fragt Lindbergh in einem Interview und betont, dass es wahre Schönheit nicht ohne Wahrheit geben könne.

Ein Appell an die Imagination

Blättert man weiter, scheint die Komposition des Bildbandes vom Schöpfer selbst inspiriert zu sein: Die Bilder erzählen Geschichten in Form von auffordernden Augen, eingefangenen Bewegungen und fliehenden Blicken. Inmitten der lyrischen Fotografie fällt zunächst gar nicht auf, dass häufig verschiedene Jahrzehnte zusammengewürfelt sind. Das Topmodel Mélanie Thierry, fotografiert im Jahre 1997, schaut den Betrachter eindringlich an, gleich neben der androgynen Kristen McMenamy aus dem Jahre 2009. Dann taucht McMenamy wieder auf, diesmal kunstvoll drapiert mit einem Blick in die Weite, deutlich jünger - ein Zeitsprung ins Jahr 1993.

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Tribute to Nijinski (Kristen McMenamy), New York, 1993. © Peter Lindbergh (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Die Ästhetik ist einheitlich und in ihrer Handschrift miteinander verbunden, dadurch ist das Werk unabhängig vom zeitlichen Kontext. Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld sagte einst über Lindbergh, seine Vision von Frauen sei „immer hochaktuell, aber gleichzeitig zeitlos“. Der Bildband verdeutlicht dies, denn er ist unkonventionell, folgt keinem strengen Schema, vermischt Jahrzehnte und lässt dem Leser Raum für Imagination – wie Lindberghs Fotografien selbst. Die einzige festgelegte Struktur des Buches ist die Unterteilung nach Modeschöpfern, für welche Lindbergh seine Fotografien erstellte.

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Tina Turner, Paris, 1989. © Peter Lindbergh (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Bevor die monochrome Bilderzählung vor meist unglamourösen Hintergründen und schlichtem Mobiliar beginnt, führt der Bildband in die persönliche Sphäre Lindberghs ein. So wird anschaulich beschrieben, wie der Fotograf zwischen Kohlminen und Fabriken im Duisburg der 1940er Jahre aufwuchs. Der Bogen seiner Biografie verläuft weiter über das künstlerische Erwachen an der Berliner Akademie der Künste, seiner Begegnung mit dem Dadaismus und dem Avantgarde-Film bis hin zu seiner Reise nach Arles, um den Spuren Vincent van Goghs zu folgen. Der Bildband nimmt seine aufklärende Funktion ernst: Der Leser erfährt, wie langjährige kreative Freundschaften, etwa zum Modedesigner Azzedine Alaïa oder zum Filmdirektor Wim Wenders, Lindberghs Schaffen beeinflusst haben, und inwiefern außenstehende Akteure wie Sänger Kurt Cobain im Rahmen des Grunge auf die Modefotografie eingewirkt haben – eine Ode an die Modehistorie der letzten 40 Jahre.

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Lionel Vermeil, Helena Christensen & Marie-Sophie Wilson, Paris, 1990. © Peter Lindbergh (Courtesy of Peter Lindbergh, Paris / Gagosian Gallery).

Nach dieser starken Einführung kann der Betrachter Lindberghs malerische Fotografien auf sich wirken lassen. Der Bildband ist eine gelungene, rohe Mischung aus Spontanität und Intimität, er reißt den Betrachter mit und lässt wieder Luft zum Atmen. Es liegt keine starre Struktur oder hierarchische Anordnung zugrunde, sondern lediglich erzählende, verführerische Fotografie. Die britische Journalistin Suzy Menkes sagte einmal, Peter Lindberghs Fotografie beuge sich nicht der „glatten Perfektion“ – ebenso wenig tut es dieses Buch, denn es zeigt den wahren, unerklärbaren Raum zwischen fotografiertem Objekt und Fotograf. Dieser Raum – und das ist das Geheimnis – wird bei Lindbergh selbst zum Kunstwerk.

Peter Lindbergh, Thierry-Maxime Loriot: A Different Vision on Fashion Photography. Taschen, Hardcover, 524 Seiten, 59,99 Euro.
Peter Lindbergh auf Instagram: @therealpeterlindbergh