Gesichter im Regen – Maximilian Streich im Interview
Maximilian Streich
Nach dem Abitur sparte Maximilian Streich für seine erste Nikon D5000 und wagte erste fotografische Experimente. Während seines Kommunikationswissenschafts-Studiums in Berlin entdeckte er die urbane Vielfalt als Inspirationsquelle, Aufenthalte in London und Sydney schärften zusätzlich seinen Blick für Komposition, Licht und Architektur.
Heute lebt er in Berlin, ist Nikon-Botschafter und vermittelt als Speaker und Autor seine Sicht auf die Street-Fotografie. Seine Arbeiten erscheinen in renommierten Magazinen und werden international ausgestellt. Im Interview erzählt er, warum ihn das urbane Leben fasziniert, wie Regen seine Kreativität beflügelt – und ermutigt Nachwuchsfotografen: „Nicht auf das perfekte Motiv warten – sondern immer wieder rausgehen, selbst bei schlechtem Licht oder Wetter.“

Interview mit Maximilian Streich
Kannst du ein bisschen darüber erzählen, wie du Fotograf geworden bist? Und erzähle uns etwas über deine Bilder.
Meine fotografische Reise begann eher autodidaktisch. Nach dem Abitur habe ich mir meine erste DSLR-Kamera, eine Nikon D5000, vom Ersparten gekauft und zunächst mit Landschaftsfotografie experimentiert. Die eigentliche Initialzündung kam dann aber mit meinem Umzug nach Berlin, wo ich Kommunikationswissenschaften studierte. Die Dynamik des urbanen Lebens, die multikulturelle Atmosphäre der Stadt, haben mich fasziniert und dazu gebracht, meinen Blickwinkel zu ändern. Ich begann, Architektur zu fotografieren und dabei immer mehr Menschen und Details in meine Kompositionen einzubeziehen. Anfangs waren die Menschen eher Beiwerk in Weitwinkelaufnahmen, aber über die Jahre habe ich mich vom "Großen ins Kleine" gearbeitet, bis die Menschen und spezifische Details zu den zentralen Elementen meiner Bilder wurden. In meinen fotografischen Arbeiten habe ich mich von Weitwinkel-Aufnahmen zu Beginn, in den letzten Jahren mehr zu Close-up-Aufnahmen von Szenen entwickelt. Ich versuche mich auf Details in Szenen zu konzentrieren, Motive stärker zu abstrahieren und mit Ebenen zu spielen.
Meine Bilder zeichnen sich oft durch eine starke Farbigkeit aus. Farbe ist für mich ein mächtiges Werkzeug, nicht nur ästhetisch, sondern auch um Geschichten zu erzählen und Emotionen zu transportieren. Zudem spiele ich viel mit Licht, Schatten, Spiegelungen und Oberflächenstrukturen. Ich versuche, das Alltägliche so zu inszenieren, dass es neu und ungewohnt wirkt, den Betrachter herauszufordern, genauer hinzuschauen. Ich möchte die Welt so zeigen, wie ich sie wahrnehme, eine Symbiose aus Vertrautem und Außergewöhnlichem.
Was fasziniert dich an der Stadt bei „schlechtem“ Wetter – was entdeckst du, wenn andere lieber drin bleiben?

Foto: Maximilian Streich - Die 10 mm tiefe ArtBox aus schwarzem Aluminium greift nicht nur die dunklen Nuancen des Motivs auf, sondern verleiht dem Fotoabzug auf Alu-Dibond auch eine prägnante Raumwirkung mit Designcharakter.
"Schlechtes" Wetter ist für mich eigentlich "gutes" Wetter für die Fotografie! Es verändert die Stadt auf eine Weise, die bei Sonnenschein nicht sichtbar ist. Wasser – sei es Regen, Pfützen oder Kondenswasser an Fenstern – ist ein zentrales Element in meiner Arbeit. Es bietet unglaubliche Möglichkeiten für Abstraktion und Reflexionen. Ein regennasser Bürgersteig verwandelt sich in einen riesigen Spiegel, der die Lichter der Stadt und die Farben des Himmels auf einzigartige Weise widerspiegelt. Regentropfen auf Scheiben erzeugen wunderschöne Muster und Verzerrungen, die eine ganz andere Perspektive auf die Welt eröffnen. Während andere Schutz suchen, bin ich draußen und entdecke diese flüchtigen, oft übersehenen Momente der Schönheit und des Zusammenspiels von Elementen, die nur bei solchen Bedingungen entstehen. Es ist eine Art, das Gewöhnliche in etwas Außergewöhnliches zu verwandeln.
Ich habe 2012 das erste Mal mit Fotos im Regen experimentiert und hatte damals etwas Angst um meine Kamera. Die besondere Stimmung von Licht und Farben, die Street Photography im Regen transportiert, hat mich jedoch fasziniert, und ich habe immer häufiger unter diesen Bedingungen fotografiert. Schlechtes Wetter wurde zum zentralen Stilelement meiner Bilder. Regen, Schnee und Nebel geben selbst bekannten Postkartenmotiven von Städten eine ganz neue Stimmung und beflügeln meine Kreativität. Dabei hilft Regen zum Beispiel sehr, weil er überall Reflexionen schafft.
Gibt es ein Bild (in unserer Auswahl), das dir besonders viel bedeutet oder eine besondere Geschichte erzählt?
Meine Serie "The Liquid Faces Series" derzeit besonders am Herzen liegt. Sie vereint viele der visuellen Elemente, die mein Portfolio ausmachen: die harmonischen, lebendigen Farben, die abstrahierenden Reflexionen und die Verwendung von Wasser als organische Leinwand. Jedes Bild dieser Serie erzählt für mich eine Geschichte von Zufall und gezielter Beobachtung. Es ist faszinierend, wie Gesichter oder Figuren durch Reflexionen in nassen Oberflächen entstehen und nur für einen Bruchteil einer Sekunde existieren, bevor sie sich wieder verändern. Diese Serie ist ein tiefgreifendes Eintauchen in die Abstraktion des Alltags und die Vergänglichkeit des Moments.
Was inspiriert dich?

Foto: Maximilian Streich - Die weiße Slimline-Einfassung schafft eine minimalistische, aber klare optische Grenze zum Nachtmotiv. Acrylglas sorgt für mehr Tiefenwirkung.
Meine Inspiration kommt aus vielen Richtungen. Einerseits sind da die Meister der frühen Streetfotografie wie Saul Leiter, Ernst Haas und Fred Herzog. Ihre Fähigkeit, die Authentizität des Alltags, das subtile Zusammenspiel von Farben und die Essenz urbaner Landschaften einzufangen, hat mich tief geprägt. Ich schöpfe aus ihrer Arbeit die Erkenntnis, wie man Poesie im Alltäglichen findet und verborgene Schönheit offenbart.
Andererseits sind zeitgenössische Fotografen wie Christophe Jarcot und Craig Whitehead eine große Quelle der Inspiration. Ihre innovativen Erzählweisen und ihre Fähigkeit, Szenen frisch und neu zu interpretieren, erweitern meinen Horizont. Sie zeigen mir, wie sich visuelle Narrative in der modernen Welt entwickeln, und ich nehme einige ihrer Techniken auf, um meine eigene Arbeit weiterzuentwickeln.
Aber abseits konkreter Vorbilder inspiriert mich vor allem der Flow-Zustand, den ich beim Fotografieren erreiche. Wenn ich mit meiner Kamera unterwegs bin, verlangsamt sich meine Wahrnehmung, und ich bin vollkommen im Moment. Diese intensive Konzentration auf Details und Szenen, losgelöst von den Gedanken des Alltags, ist unglaublich befriedigend und beflügelnd.
Wie findest du neue Perspektiven in einer Stadt, die du schon so gut kennst?
Ich gehe selten mit einer festen Vorstellung eines bestimmten Bildes los. Stattdessen versuche ich, meine Umgebung so offen wie möglich zu erkunden. Oft bewege ich mich in einem relativ kleinen Radius an Orten, die ich gut kenne, aber ich verlasse mich dann auf meine trainierte selektive Wahrnehmung. Das bedeutet, ich suche gezielt nach visuellen Auslösern: ungewöhnlichen Farbschemata, spannenden Oberflächenstrukturen, Spiegelungen in Glas, Wasser oder Metall. Diese Trigger helfen mir, vielversprechende Szenen schnell zu erkennen.
Manchmal hilft es auch, bewusst Bekanntes loszulassen. Beispielsweise sind Motive wie Regenschirme oder Hüte, die mich früher oft begleitet haben, heute vielleicht etwas klischeehaft geworden. Daher ist es erfrischend, mit neuen Techniken zu experimentieren, sei es durch Langzeitbelichtungen, unkonventionelle Bildausschnitte oder extreme Detailaufnahmen. Das zwingt mich, anders zu sehen und aus der Komfortzone meiner üblichen Blickwinkel auszubrechen.
Welches Projekt oder welche Stadt steht als Nächstes auf deiner Liste – und warum?

Foto: Maximilian Streich - Das Hahnemühle Photo Rag Bright White mit sanfter Filzstruktur und hohem Weißgrad sorgt für klare Kontraste und brillante Farben. Der schwarze Passepartout-Rahmen „Hamburg” verleiht der Serie eine klassisch-elegante Note.
Ganz oben auf meiner Liste steht derzeit Tokio. Ich war noch nie in Asien unterwegs, und allein das macht die Reise für mich schon besonders aufregend. Aber was mich vor allem reizt, ist die unglaubliche visuelle Dichte dieser Stadt – das Nebeneinander von Tradition und Zukunft, von engen Gassen und riesigen Leuchtreklamen, von Stille und Überreizung. Für die Streetfotografie bietet Tokio unendlich viele Möglichkeiten: spannende Lichtverhältnisse, ungewöhnliche Perspektiven, interessante Menschen und eine Ästhetik, die ich so aus Europa nicht kenne. Ich glaube, dass mich diese Reizüberflutung fotografisch fordern und gleichzeitig inspirieren wird.
Welche drei zentralen Learnings würdest du Nachwuchsfotograf:innen mitgeben, die eine eigene, unverwechselbare Bildsprache entwickeln möchten?
Fotografiere regelmäßig. Nicht auf das perfekte Motiv warten – sondern immer wieder rausgehen, selbst bei schlechtem Licht oder Wetter. Gerade dann entstehen oft die spannendsten Bilder.
Lass dir Zeit, deinen Stil zu finden. Das braucht Erfahrung, Rückschläge, viele misslungene Bilder. Wichtig ist, ehrlich zu sich selbst zu sein: Was berührt mich wirklich? Was interessiert mich visuell?
Beginne einfach. Du musst nicht sofort Menschen fotografieren oder spektakuläre Straßenbilder machen. Oft liegt die Kraft im Stillen, im Unspektakulären. Beobachte. Und entwickle daraus dein eigenes Sehen.
Was sollten wir noch über dich wissen?
Maximilian Streich, 1990 in Hannover geboren und seit 2010 in Berlin ansässig, entdeckte seine Leidenschaft für Fotografie autodidaktisch. Nach dem Abitur sparte er für eine Nikon D5000, mit der er erste Experimente wagte. Sein Studium der Kommunikationswissenschaften in Berlin eröffnete neue Perspektiven auf das urbane Leben, während Aufenthalte in London und Sydney seinen Blick für Komposition, Licht und Architektur schärften. Anfangs dokumentierte er vor allem Architektur, in denen Menschen nur als Beiwerk auftauchten. Bald rückten diese jedoch als Hauptakteure ins Zentrum seiner Bildwelt, wodurch seine Fotografie eine tiefere emotionale Dimension entwickelte. Seine Arbeiten erschienen in renommierten nationalen und internationalen Magazinen und wurden in Einzel- sowie Gruppenausstellungen präsentiert. Seit 2018 kooperiert Maximilian als Nikon-Botschafter in vielfältigen Kampagnen. Als Speaker und Autor liefert Maximilian Einblicke in die moderne Street-Fotografie. Seine Bildsprache zeichnet sich durch lebendige Farben, spannende Spiegelungen und harmonische Beziehungen zwischen Bildelementen aus.
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